Wer hat an der Uhr gedreht?

Sie war eine selbstständige, lebensfrohe ältere Dame, die sich komplett selbst versorgt hat. Zeit ihres Lebens hat sie viel gearbeitet, brauchte selten Hilfe. Und dann, nach dem Schlaganfall und der wochenlangen Reha, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Zuviel des Guten

Aufmerksam wurde ich, als ich von einer der Töchter gefragt wurde, ob man der Mutter noch mehr Beruhigungsmittel geben könne. Da ich gerade meine ATHINA-Weiterbildung begonnen hatte, bat ich die Tochter, doch mal alle Medikamente mitzubringen, um einen Überblick zu bekommen. Zehn verschiedene Arzneimittel brachte die Tochter mit, alle einer Frau verordnet, die bis vor kurzem noch gar keine Medikamente nehmen musste. Laut Anweisung in der Reha sollte die alte Dame bereits morgens sechs Tabletten bekommen, allerdings alle auf einmal und gemörsert. Wie gut das funktioniert, vor allem wenn noch Metoprololsuccinat- Retardtabletten dabei sind, weiß wohl jeder von uns. Neben all den üblichen Herz-Kreislaufmitteln, bekam die Mutter auch Melperon Saft. Die Tochter wollte wissen, warum der verordnet worden sei. Zumal die Mutter doch noch Bromazepam nehme. Sie sei aber auch sehr träge geworden und müde, sehr müde. Dafür war sie morgens immer schon um 6h wach, was unpraktisch sei, fand auch die polnische Pflegekraft. Nach fast schon detektivischem Nachfragen stellte sich raus, dass die Mutter das Melperon und das Bromazepam schon um 18h bekam, damit sie dann spätestens um 19h auch schläft, dass sie dann natürlich am frühen Morgen aufwacht, erschien leider nur mir logisch.

Mehr Verständnis

Der Grund für die Melperon-Gabe war, dass die Mutter teilweise auf die ihr angebotene Hilfe aggressiv reagierte. Eine Frau, die von heute auf morgen ihre Selbstbestimmung verliert und ab da fremdgesteuert leben muss, reagiert zornig- da war mir eher unverständlich, warum sie nicht immer aggressiv war. Nach ein paar Tagen Melperon, welches nun auch tagsüber gegeben wurde, war die Mutter den Kindern zu lethargisch. Ob ich nicht was zum Aufputschen hätte, schließlich sei Mutti früher so fit gewesen und nun sei sie so teilnahmslos. Ohne ATHINA und die Erstellung eines Medikationsplanes bleiben solche Einnahmefehler oder Neben- und Wechselwirkungen häufig unentdeckt, was die ohnehin schon miese Lebensqualität mancher Senioren noch verschlechtert. Ich ordnete also den Medikamentenplan, telefonierte mit der behandelnden Ärztin, führte immer wieder lange Gespräche mit den Angehörigen, um die Einnahme der Arzneimittel zu erklären und um Verständnis für die alte Dame zu werben- mehr konnte ich nicht tun.

Abgeschoben und vergessen

Das Thema beschäftigt mich immer wieder, ganz aktuell haben wir einen Fall in der Apotheke, wo der Enkelsohn die Rechnungen für seine im Heim lebende Großmutter nicht zahlen will. Er ist der Vormund, verwaltet die Konten und die Rente seiner Oma, aber verantwortlich damit umgehen, das tut er nicht. Auch die Rechnungen vom Heim bleiben offen. Wenn die alte Dame wüsste, dass sie bei der Apotheke und beim Heim in der Kreide steht, sie würde sich abgrundtief schämen.

Mangelnde Empathie für unsere Senioren

Warum mangelt es so vielen an Empathie und Feingefühl im Umgang mit den eigenen Verwandten? Die Mißstände in der Pflege will ich hier gar nicht ansprechen, das würde den Umfang dieser Kolumne sprengen, auch da herrscht das gleiche Politikversagen wie in unserem Stand. Für alte Leute ist nicht wirklich Platz in unserer Gesellschaft. Ich habe gerade einen guten Vergleich in der eigenen Familie. Unsere Jüngste war ab dem ersten Lebenstag stolze Besitzerin eines eigenen Zimmers, liebevoll von uns gestaltet, immer darauf achtend, keine Giftstoffe beim Renovieren zu verwenden. Gewickelt wird natürlich, sobald sich nur ein Hauch von Geruch wahrnehmen lässt. Alle ihre Entwicklungsschritte werden bejubelt und mit Engelsgeduld werden immer wieder Gegenstände vom Fußboden aufgehoben, die sie mit voller Absicht und mit großer Freude hinwirft. Baden und eincremen ist ein Wellness-Ritual und kann sie mal nicht einschlafen, dann wird sie getröstet, gewiegt und bekuschelt.

Keine Privatsphäre im Alter

Warum hat ein alter Mensch, der sein Leben gelebt und seine Kinder und eventuell auch seine Enkelkinder groß gezogen hat, weniger Rechte als ein Baby? Kommt man ins Pflegeheim, sind es häufig Mehrbettzimmer ohne jegliche Intimsphäre. Bei Inkontinenz wird gewickelt nach Krankenkassen-Vorgabe und ins Bett geht es am frühen Abend, ob man müde ist, interessiert niemanden. Wird der alte Mensch tüdelig oder vergesslich, dann reagiert das Umfeld genervt. Sind dunkle Gedanken, ja vielleicht auch Aggression nicht angemessen, wenn man merkt, dass der Körper nicht mehr so mitmacht oder der Geist nachlässt?

Alt werden ist nichts für Feiglinge

Das Ende des Lebens kann Angst machen, nicht nur dem Betroffenen, sondern auch den Angehörigen. Und das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum Neugeborene so viel besser behandelt werden als die dazu gehörigen Großeltern. Ein Baby ist niedlich, riecht gut und so herrlich putzig. Ein alter Mensch hingegen, erinnert uns an unsere eigene Vergänglichkeit und das schreckt ab. Dabei tut es jedem Menschen gut, getröstet zu werden- egal wie alt er ist. Warum sollte ein alter Mensch weniger Liebe und Körperlichkeit brauchen als ein kleiner? Meine Eltern sind noch sehr selbstständig, aber mir ist bewusst, dass sich das jeden Tag ändern kann. Ob ich dann in der Lage wäre, sie zu Hause zu pflegen, kann ich nicht sagen, da das ja immer von vielen Umständen, nicht zuletzt auch von der Erkrankung selbst, abhängig ist. Aber ich hoffe, dass ich die gleiche Liebe und Geduld aufbringe, die meine Eltern mir immer entgegen gebracht haben. Und ich bin froh, dass ich als Apothekerin in der Lage bin, die notwendige Medikation professionell zu begleiten.

By | 2017-07-26T15:41:57+02:00 März 15th, 2016|Kolumne Deutsche Apothekerzeitung|0 Comments

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